Offenheit als Stärke

Es gibt einen weit verbreiteten Glaubenssatz, der da heißt „Offenheit macht verwundbar“, den alle für eine Lebenswahrheit halten. Ich nicht.

Die Grundannahme hinter „Offenheit macht verletzlich / verwundbar“ sind ja:
– Das Leben ist gefährlich
– andere wollen mich verletzen
– davor muss ich mich schützen
– wenn ich es nicht tue, bin ich im Nachteil
– Offenheit macht mich verletzlich und andere werden es ausnutzen.

Ich für mich aktzeptiere keine dieser Grundannahmen.

Schauen wir mal ein paar im Detail an:

Erstens: Das Leben ist gefährlich

Nun gut, das ist die Annahme, die in mir auch einen Widerhall hat, die ich aber trotzdem nicht glaube. Ich mag daran die Klassifizierung nicht. Es ist nicht wertfrei sondern negativ. Ja, das Leben ist turbulent, vielfältig, komplex, es beinhaltet auch Schmerz, es ist wild, nicht steuerbar, einzigartig und endet mit dem Tod.

Manchmal ist etwas im Leben gefährlich und grausam – aber das ist meines Erachtens nur in den allerseltensten Fällen „das Leben“ oder „die Natur“ (die kann nicht grausam sein) – es sind manche Menschen und von manchen Menschen erzeugte Situationen. Das ist schlimm. Und es gibt tausend Gründe, daran etwas zu ändern.

Aber „Das Leben ist gefährlich“ stützt nur eine vage Angst, tut so als wäre das Leben daran schuld und als müsste man sich gegen das Leben verteidigen oder auf der Hut sein. Keines dieser Konzepte ist gesund und lebensbejahend. Das Leben ist etwas, was wir feiern, leben, auskosten, zelebrieren, gestalten sollten.

Nur zur Klärung – es geht mir nicht darum, Gefahren oder Leid zu leugnen. Aber mit der Existenz von Gefahren oder Leid will ich nicht das Leben definieren, schon gar nicht mein Leben und sie nicht nutzen als Argument mich zu verschanzen.

Zweitens: Andere wollen mich verletzen

Ja, vermutlich kann es Situationen geben, in denen ein Mensch mich verletzen möchte. Da ich hier als Weiße in Mitteleuropa lebe, gehe ich mal davon aus, dass sich das erstmal auf emotionale Verletzungen bezieht. Und ehrlich gesagt, gehe ich nicht davon aus, dass es Horden von Menschen gibt, die da draußen herumstreunen und Pläne schmieden genau mich absichtlich und willentlich zu verletzen. Nope. Manchmal schlägt ein Mensch verbal um sich. Und vielleicht bin ich dummerweise in der Nähe und Blitzableiter. Dieser Mensch hat sicherlich irgendeinen Grund dafür, auch wenn ich den nicht gut heißen muss und mich nicht als Empfänger zur Verfügung stehen muss. Aber bei „andere wollen mich verletzen“ fehlt mir dir Fantasie. Das kann ich nicht glauben. Vielmehr fehlt mir vermutlich die verletzende bis traumatische Situation in meiner Kindheit, die dies als logische Erklärung und Wahrheit erscheinen lässt.

Drittens: Davor muss ich mich schützen

Also vor Angriffen muss ich mich schützen. Jein. Natürlich ist es mein Anliegen sicher und unversehrt zu sein und zu bleiben. Dies ist ein Grundbedürfnis und Grundrecht. Nur bin ich skeptisch, dass man es mit Mauern bauen oder präventiven Schutzmaßnahmen erreicht. Ich kann mich besser schützen, in dem ich mit offenen Sinnen meine Umgebung wahrnehme und flexibel reagieren kann (wahrnehmen, verstehen, angemessene Reaktionen entwickeln). Damit meine ich allerdings keine Alarmhaltung – sondern, nun ja Offenheit 🙂

Der vermeintliche Schutz

Der vermeintliche Schutz vor Angriffen ist für die meisten Menschen eine Distanz oder Mauer – etwas, das keine Offenheit ist und das Innerste verbirgt. Ich habe die Stragie unbewusst und bewusst auch schon ausprobiert. Viel zu lange, wie ich meine. Aber erst in meinen späten Dreißigern. Es ist nicht meine originär gelernte Strategie.

Wenn ich also so eine Abwehrmauer um mich rum hätte, würde mich das schüzten. Nun ja, es blockt einiges aus. Hauptsächlich die Möglichkeit, andere Menschen deutlich wahrzunehmen und die Möglichkeit, dass andere Menschen mich wirklich wahrnehmen können. Damit blockiert es dann aber auch die Möglichkeiten echter authentischer tiefer Beziehungen. Es kommt ja nichts ran.

Für mich ist so eine Abwehrmauer die in Form gegossene Angst vor Verletzungen. Dieses Informgießen manifestiert aber in meinen Augen die Verletzung. Denn sie ist dann für mich realer als die Option auf bereichernde berührende Beziehungen, denn die Abwehr / Abgrenzung ist ja handlungsleitend. Und ich schließe damit das aus, was ich als Mensch brauche: wahrhaftige Beziehungen. Ich schließe eine schönere Realität dafür für mich aus, kann sie nicht erleben, so lange ich eingemauert bin. Erst wenn ich es es wage, die Mauer abzubauen.

Ich glaube, die meisten Menschen haben vielleicht vor, die Mauer abzubauen, wenn es sicher ist. Aber wie kann ich erkennen, dass es sicher ist, wenn ich hinter einer Mauer sitze? Und mich an diesen Zustand gewöhnt habe, ihn für wichtig halte. Man kommt da echt schwer wieder raus.

Allerdings muss ich sagen, dass ich hier in einer priviligierten Situation bin: Wie gesagt, ich habe keine traumatische Verletzung erfahren, die mich zu einem solchen Glaubenssatz geführt hat. Mit einer solchen ursprünglichen Verletzung kann es eine sehr langwierige Aufgabe mit vielen Minischritten sein, Vertrauen zu erleben. Ein Weg, der sich gefährlich anfühlt, wie alles, was an unsere Substanz und unsere eingemachten Glaubenssätze und Ängste rührt.

Meine Mauer war durch aktive Abgrenzung aus einer Situation und dann aus Überforderung entstanden und da sie nicht echt zu mir gehört und sich nicht als mit mir verwachsen anfühlte, konnte ich sie Stückweise wieder abbauen. Dafür war es erstaunlich schwierig – weil auch mein Unbewusstes verstehen musste, dass es sicher ist. Trotzdem war es gleichzeitig auch vergleichsweise einfach – da ich wusste, wie sich das Ziel anfühlt. Nicht immer ist es so einfach. Aber immer lohnenswert.

Aber warum soll Offenheit nicht verletzlich machen?

Es gibt viele Formen von Offenheit – oder Dinge, die wir dafür halten können. Wenn es nicht eine Form von Grenzenlosigkeit, Grenzmissachtung oder Selbstverlust ist sondern halbwegs ausbalancierte Offenheit, dann ist das ein stabiler und flexibler Seinszustand, der sehr gesund ist und eben flexible Wahrnehmung und Handlung ermöglicht.

Also. Keine gesunde ausbalancierte Offenheit ist z.B. wenn eine alles von anderen fühlt und nicht von ihrem eigenen unterscheiden kann. Das wäre Sensitivität ohne Abgrenzung und ohne ein Gefühl für das Eigene. Hier ist tatsächlich eine gewisse Form von Barriere manchmal hilfreich. Am allerhilfreichsten ist es, alles das, was das Selbst ausmacht, zu spüren. Sensitivität ist ein anderes Thema – erfordert andere Ansätze. Das ist an sich etwas Tolles, wofür nur die meisten Menschen nie Unterstützung (vor allem als Kinder) erhalten haben. Aber es ist sicherlich schwierig, das eigene von fremden unterscheiden zu lernen.

Keine ausbalancierte Offenheit ist auch, wenn jemand jedem Fremdem ein Ohr abkaut mit Details der eigenen Lebensgeschichte und Erlebens – natürlich ungefragt. Das ist überhaupt keine Offenheit. Ganz andere Baustelle.

Es ist auch keine Offenheit, wenn mensch im negativen Sinne sehr beeinflussbar ist. Wenn es da kein eigenes gibt, sondern mensch mit dem Strom schwimmt. Auch das ist was ganz anderes.

Ausbalancierte Offenheit

Wenn aber jemand offen die Situation wahrnimmt. Mit so wenig Vorannahmen wie möglich. Und sich authentisch zeigt, so wenig wie möglich etwas vorspielt oder verbirgt. Keine spezielle Reaktion erwartet – kein um zu oder aufrechnen. Die Person ist, die sie ist, sich selbst spüren kann – ohne Scham, ohne Drama. Das ist ein Zustand, der uns allen gut stünde und das ist eine Stärke. Das hat nichts von Schwäche.

In so einem Zustand – und auch weniger perfekten Abwandlungen davon – kann einen nicht irgendeine willkürliche Unachtsamkeit oder willkürliche Unfreundlichkeit dauerhaft verletzen. Denn da sind wir viel näher an unseren eigenen Gefühlen, Stärken dran und viel weniger an Sicherungsmechanismen im Außen und Stabilität durch Illusionen erzeugen, die dann so schnell zusammen brechen können. Und wenn doch mal, geht es einfacher zurück zu schwingen. Die Verletzung wird nicht als Mauerbaugrund wahrgenommen.

Viel öfter Ursache von Verletzungen sind sowieso geplatze Illusionen, irrige Annahmen oder Zuschreibungen, die ich aufgestellt habe – als irgendwelche echten Angriffe.

Nein, ich behaupte nicht, dass ich dauerhaft in einem solchen Seinszustand leben kann. Ich bin keine erleuchtete Meisterin. Ich bin ich – eine „erwachte Frau“, spirituelle Frau mit Bodenhaftung, Mutter, Schwester, Tochter, Geliebte und wunderbar unperfekt und mit erheblichem Chaosfaktor.

Immer, wenn ich mich selbst spüre und offen sein kann – wie z.B. in Frauenkreisen – spüre ich die Kraft dieses Zustands und die Anmut, Schönheit und Heilung die darin liegt.

So sehr, dass ich mich danach sehne, wenn die Erfahrung im Alltagstrubel, Arbeitsalltag oder ähnlichem untergeht.

Aber das Gefühl bleibt. Es zieht mich dahin zurück. Und es lässt mich sagen: Offenheit ist eine Stärke.

Dazwischen allerdings steht die Angst und meist eine Verletzung. Und nur mit liebevoller Offenheit gegenüber sich selbst kann mensch Schritt für Schritt der Heilung dieses Bereichs näher kommen.

Und jede Schwester, die sich im Kreis öffnet, hilft dabei, dies kollektiv und individuell zu heilen.

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