Fokus auf die Wiederkehr des Lichts oder die Dunkelheit – was hilft uns?

Achtung Spoiler: in diesem Artikel geht es nicht um eine goldene Mitte

Am Beispiel der Dunkelheit im Dezember und meines Podcasts dazu fällt mir die unterschiedliche Betrachtungsweise sehr ins Auge: Fokussiert sich eine Person auf das Ziel, das Kommende, das Positive – hat den Blick voraus. Oder fokussiert sich eine Person auf das was gerade ist, was sie gerade erlebt- in dem Beispiel die Dunkelheit, das was jetzt ist? Was davon ist richtig und warum unterscheiden wir uns da so stark?

Das Tolle ist, es ist beides richtig. Genauso wie es richtig ist, beides zu sehen. Keine der Varianten ist richtiger als die andere.

Dies ist einfach eine wunderbare Möglichkeit, Diversität zu sehen und anzuerkennen. Eine Situation, wie zum Beispiel ein dunkler Winter hat immer unzählige Aspekte. Wir tendieren zur Vereinfachung, weil wir so vermeintlich besser kommunizieren und verstehen können – oder so die größeren Zusammenhänge besser (er)klären können. Aber so ein dunkler Dezember ist sowieso ja erstmal ein Konstrukt. Und jeder einzelner Tag ist voller unterschiedlicher Dinge und Erfahrungen – die eben auch in Beziehung stehen zu der Person, die sie erlebt. Wir sehen die Welt durch eine Brille. Immer. Durch die Brille unserer Gedanken – die durch unsere Erfahrungen geformt wurden.

Individuelle Wahrnehmung

Jeder kennt das Phänomen, das zwei Personen in einer gleichen Situation sind, z.B. eine überschaubare Veranstaltung oder Erlebnis und beide hinterher komplett unterschiedliche Dinge berichten darüber, was geschehen ist, was sie erlebt haben und natürlich, wie sie es bewerten. Und beide haben Recht und für beide ist das Erleben logisch – aus der Innenperspektive heraus. Aus der Außenperspektive steht man manchmal verwundert da – weil einem eben das Setting fehlt, weil man durch die eigene Brille etwas anderes sieht. Ganz oft hilft uns, die Situation aus einer anderen Perspektive zu sehen, uns von dem Gefühl der Begrenzung zu lösen, gerade wenn wir etwas erlebt haben, dass uns belastet. Aber es hilft nicht immer.
Denn das Anerkennen einer anderen Sichtweise hilft nur, wenn ich weiß, dass auch meine Sichtweise anerkannt ist und richtig ist. Allen voran von mir anerkannt. Aber auch von der anderen Person stehen gelassen. Denn es ist wirklich giftig und schädigend, lebensverachtend, wenn eine Person erniedrigt wird für falsch befunden wird, ihre Sichtweise als komplett falsch – irrational, nicht beachtenswert, beschämend und minderwertig betrachtet wird. (Ich weiß nicht, wie man damit im Fall von Extremismus umgehen kann – aber darum geht es jetzt hier auch nicht.)

Beschämungserfahrung durch richtig und falsch

Dadurch, dass wir alle vermutlich schon mal erlebt haben, beschämt zu werden und unser Erleben als falsch deklariert wurde, sind wir oft empfindlich bei widersprechenden Sichtweisen.
Wenn Luise* (*fiktive Namen) sagt, dass das spirituell wichtige am Dezember die Wiederkehr des Lichts ist und Annemarie sagt, es sei die Dunkelheit, können sich beide mißverstanden fühlen. Weil wir es so gewohnt sind, dass es eine einzige richtige Sichtweise gibt. Was aber ein komplettes Konstrukt ist. Ein Konstrukt dass bei dem Ergebnis einer Rechnung gilt – im Rahmen der Mathematik. Aber sonst fast nirgendwo. Ein Konstrukt, das uns daran hindert, Diversität erfüllend und bereichernd zu erleben. Zu dem Thema gibt richtig falsch es in 2022 auch eine Podcastfolge.

Zurück zur Dunkelheit und dem Licht. Dem Jetzt und dem nächsten Schritt. Dem Ausblick dem Wunsch nach Aussicht auf bessere Zeiten und dem Fokus auf die Zeiten jetzt.
Mir begegnet dieser Unterschied in ganz vielen Situationen.

Ungesunde Bereiche der Skala

Beide Sichtweisen kann man (wie immer) überspitzen und ins Ungesunde verkehren. In Schönreden, nur Positives zulassen, übertünchen, Selbstbetrug auf der einen Seite – der Seite mit dem Ausblick. Auf der anderen Seite in die Schwermütigkeit, man-kann-eh-nichts-ändern, Perspektivlosigkeit, dem Leiden den Vorzug geben – auf der anderen Seite. Es passiert es häufig, dass man aus der eigenen Perspektive heraus die andere Perspektive nur in ihrer Überspitzung, ihrer Destruktivität wahrnehmen kann. Was das Verständnis auf beiden Seiten erschwert.
Denn ich kann ich mich sofort unangenehm missverstanden fühlen, wenn eine andere auf die Ungesundheit der Sichtweise auf meinem Ende der Skala hinweist – wenn hier nur die Überspitzung gesehen wird.

Aber auch hier ist ja wieder ein unterschwelliges Richtig-Falsch-Muster am Werk. Es ist in der Praxis wirklich schwierig bei einer eigenen Meinung und einem eigenen richtig alle Betrachtungsseiten der Situation als richtig zu sehen – weil ich mich ja aus gutem Grund für diese eine festgelegt habe. Und dieser Grund sehr oft in der Destruktivität der Überspitzung der anderen Seite liegt.

Aber was gedanklich echt kompliziert ist, kann sich emotional auch ruhig und auch einfach anfühlen.

In dem ich eben nicht auf der gedanklichen analytischen Ebene bleibe, sondern die Beziehungsebene, den Menschen miteinbeziehe. Und dem gedanklichen schwarz-weiß widerstehe, kein Angriff und keine Verteidigung fühle, sondern Austausch und Verbindung zwischen Menschen.

Gesund und ungesund für uns sind individuell

Tatsächlich denke ich, dass zurück zum konkreten Fall – die Sichtweise der einen Gruppe von Menschen mit dem Fokus auf die lange Sicht und das Positive für diese Menschen psychologisch hilfreich und genau richtig ist genauso wie der Fokus der Gruppe der anderen Menschen für sie psychologisch hilfreich und genau richtig ist.  


Als ich mich frisch mit dem Thema Umgang mit Kindern beschäftigte, geriet ich an einen Ansatz, bei dem Entgegenkommen und Lockerheit extrem betont und fokussiert wurde. Mit diesem Ansatz konnte ich so nicht arbeiten, weil der von einer anderen Ausgangssituation ausging. Ich startete von dort, wo der Ansatz das Ziel setze. Mehr davon und uneingeschränkter Fokus darauf hätte mich in eine ungesunde Übertreibung gebracht, ich musste mich mit den Bereichen auseinandersetzen, die bei mir weniger ausgeprägt sind und wie ich damit umgehe.
Da wir an ganz unterschiedlichen Stellen im Leben stehen – so unterschiedliche Dinge erleben und erlebt haben, unsere Charaktere sich unterscheiden – kommen wir zu dem gleichen Ort, dem gleichen Ziel durch unterschiedlichen Fokus und unterschiedliche Sichtweisen.

Medizin

Wir können geerdet und bodenständig sein, egal ob wir uns auf die Ferne oder das Jetzt oder beides konzentrieren. (Und wir können auch in ungesunde Gefilde gelangen, egal ob wir uns auf das Jetzt oder das Dort konzentrieren. Wir können auch in ungesunde Gefilde geraten, wenn wir immer nur die Mitte den Ausgleich erleben wollen).
Während das eine für die eine Medizin ist, ist es für die andere „Gift“  – weil sie schon genug davon hat, dass sie es überdosieren würde, oder weil sie es an dem Ort, an dem sie ist einfach nicht braucht – wie wenn man sich mit Medizin behandelt ohne krank zu sein.  Oder auch, weil man an die gesunde Variante nicht heran kommt, nur die überspitzte im Zugriff hat, die andere einfach gerade nicht verfügbar ist.

Deswegen führen uns Tag für Tag unterschiedliche und sich wiedersprechende Konzepte, unterschiedliche Betrachtungsweisen an einen gesunden Ort, an dem wir nicht allein sind.

Das zu erleben und zu erinnern ist ein weiches warmes Gefühl und es bestärkt die innere Sicherheit. Ich bin ok, du bist ok. Wir sind hier sicher. Unterschliedliche Betrachtungsweisen sind nicht gefährlich. Das ist eine Medizin, die wir vielleicht alle brauchen können.

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